Sonntag, 21. April 2024, 08:00 Uhr
von Prof. Dr. Sebastian Seiffert

Weniger Klimawandel, mehr Klausurwissen?

Eine Sondervorlesung zur Physikalischen Chemie des Klimawandels änderte für mich vor einigen Jahren vieles. Das Thema lässt mir seither keine Ruhe; auch in meinen Vorlesungen. Doch aus dem anfänglichen Interesse wird zunehmend Ratlosigkeit. Was nun?

Schon immer war es mir wichtig, in Vorlesungen mehr zu vermitteln als reines Fachwissen. Wozu ist das alles wichtig, was wir im Studium lernen? Diese Frage kann nicht nur Motivation für Durststrecken liefern, sondern auch Orientierung.

Anfangs waren es vor allem Praxisbezüge, denen ich in meinen Vorlesungen zur Physikalischen Chemie und zur Polymerwissenschaft Raum gab. Gerade am Anfang eines Studiums scheint das Leben danach noch unfassbar weit weg. Umso wichtiger finde ich es, schon in Grundvorlesungen neben all den vielen fachlichen Details das große Ganze zu thematisieren. Wie funktioniert Naturwissenschaft? Welche Bezüge hat sie zum Leben? Und was wird darin auch über die Klausur hinaus Bedeutung haben?

Das Klima spielte dabei lange keine Rolle. Das änderte sich 2018. Die Klimabewegung wurde zum Massenphänomen, und mehr und mehr geriet das Thema in den medialen Diskurs. Auch in meinen Vorlesungen ging ich nun stellenweise darauf ein. Gerade die Physikalische Chemie hat viele Bezüge dazu. Sie kann erklären, warum und wie bestimmte Atmosphärengase Wärmestrahlung absorbieren (Übergangsdipolmoment). Sie ermöglicht zu quantifizieren, warum und wie viel die Luftfeuchtigkeit mit zunehmender Meerestemperatur steigt; und wie dies etwa Starkniederschläge bedingt (Clausius-Clapeyron-Gleichung). Und sie zeigt auf, was komplexe Systeme sind — und wie und wieso sie Kippvorgänge zeigen können (Nichtgleichgewichtsthermodynamik).

In meinen Vorlesungen zur Physikalischen Chemie stelle ich regelmäßig Bezüge auch zu Klima-Themenaspekten her; etwa zur nichtlinearen Natur komplexer Systeme.

Ich nahm ich das Momentum auf und ließ hierzu auch längere Interaktion zu. Und das Interesse war groß. Angeregt diskutierten wir im Hörsaal über die Chance und Aufgabe der Chemie beim Übergang in eine nachhaltige Welt. Lebhaft tauschten Studierende Argumente auch grundsätzlicher Art aus. Brauchen wir vor allem Innovation und Technologie? Oder eher lenkende gesetzliche Rahmen?

Im November 2019 beteiligte ich mich an einer Aktion namens Lectures for Future und ersetzte eine meiner Regelvorlesungsstunden durch eine Sonderlehreinheit zur Physikalischen Chemie des Klimawandels. Bei der Vorbereitung erkannte ich zum ersten Mal das brutale Ausmaß der Klimakrise. Mir wurde bewusst, wo wir als Menschheit eigentlich stehen. Und wohin unser Kurs momentan führt. Ich nenne es rückblickend meinen „Klima-Klickmoment“. Dadurch eröffnete sich ein neues Kapitel in meinem Leben; beruflich wie privat. Ich habe darüber schon vielfach berichtet; etwa in einem meiner ersten Blogtexte hier.

Die Zeit der Corona-Semester und Digitallehre in den Jahren 2020 und 2021 brachte eine Zäsur in den Lehrbetrieb. Doch auch nach Wiederaufnahme der Präsenzlehre ließ ich dem Thema Raum. Und noch immer war das Interesse groß. Seit einigen Semestern indes spüre ich eine Veränderung. Die Hoffnung weicht Ernüchterung. Das Interesse weicht Ratlosigkeit. Und zunehmend schlägt mir auch spürbares Ausweichen entgegen.

In der vergangenen Woche startete wieder ein neues Semester. Wie immer widmete ich die erste Vorlesungseinheit neben vielen technischen Details zum Semesterbetrieb auch Meta-Themen. Worum geht es in den Naturwissenschaften? Welche Rolle hat dabei die Physikalische Chemie? Und wiederum auch: Wie ist der Stand der Klimakrise inzwischen? Ich zeigte dazu aktuelle Klimadaten. Die unfassbare Temperaturanomalie in der Luft und in den Meeren der letzten zwölf Monate. Und jüngste Publikationen in Premiumjournalen über Kollaps-Risiken in Teilen des Erdsystems; etwa in der Biosphäre, der Kryosphäre und der Hydrosphäre.

Es geht mir dabei nicht darum, Studierende im Hörsaal zu verängstigen oder in irgendeine Richtung zu lenken. Im Gegenteil: ich habe es mir selbst strikt verboten, hierbei Stellung zu beziehen oder eigene Positionen zu äußern. Stattdessen stelle ich Fragen. Wollen Sie das Thema in der Vorlesung behandelt haben? Können Sie es überhaupt noch hören? Und wie geht es Ihnen dabei?

Diesmal allerdings stimmten schon vorher nicht wenige Studierende mit den Füßen ab. Von rund 150 Personen im Hörsaal verließen gut 20 die Vorlesung während dieses Teils. Als ich schließlich zur Frage kam, ob wir im Laufe des Semesters (da wo es eben thematisch passt) weiter darauf eingehen sollen, sprach aus vielen Gesichtern Ratlosigkeit. Einige nickten zaghaft. Niemand ergriff das Wort. Auch meine Gegenfrage blieb unbeantwortet. „Wir müssen das nicht tun; wir können auch ganz normal den Lehrplan durchziehen, ohne Klima. Wollen Sie das lieber?“ Wieder keine Antwort. Sondern vielmehr vor allem ratlose Blicke.

In einer Lehrevaluation im vergangenen Jahr gab es durchaus Lob für die Klimabezüge in meinen Vorlesungen. Aber auch Kritik. „Weniger Klimawandel, mehr Klausurwissen“ schrieb dort jemand. Ich finde das völlig okay und legitim. Und dennoch ernüchtert es natürlich.

Auch im akademischen Umfeld spüre ich ähnliches. Seit etwa einem halben Jahr bin ich Sprecher eines neuen Sonderforschungsbereichs in den Materialwissenschaften. Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, diese Position auch zu nutzen, um Klima-Aspekte mit einfließen zu lassen. Ein Aspekt, auf den ich mich dabei besonders fokussiere, ist Flugreduktion. Flugreisen verursachen einen nicht unerheblichen Teil der Treibhausgasemissionen im Forschungsbetrieb. Es ist nicht der größte Teil (dieser fällt der Gebäudeinfrastruktur zu), aber dennoch ein großer — und vor allem einer, der eigentlich sofort reduzierbar ist; wenn ein Wille dazu da ist. Als ich das Thema jedoch kürzlich auf unserem ersten Retreat konkretisieren wollte, gab es von zwei Kollegen deutlichen Widerstand. Ich solle mich nicht so sehr darauf fixieren, Flüge seien nun mal im Forschungsbetrieb unverzichtbar, und dem Klima sei damit ja auch nicht geholfen — das Flugzeug fliege ja sowieso, egal ob man nun an Bord sei oder nicht. Zwar waren es nur zwei von rund 50 Personen im Raum, die diese Vorbehalte äußerten; aber es gab eben auch keine Fürsprache. Stattdessen indes wieder viele ratlose Gesichter. Ich hatte das Gefühl, dass die meisten sich wohl fragten, warum ich hierzu so ein Fass aufmache; so wichtig sei das doch nun auch wieder nicht.

All diese Eindrücke decken sich mit dem, was ich auch abseits des Uni-Betriebs wahrnehme. Das Klima-Thema ernüchtert. Viele wollen es nicht mehr hören. Viele können es nicht mehr hören. Viele sind einfach ratlos. Und unendlich müde. Das Momentum von einst ist verpufft. Dauerkrisen haben uns mürbe gemacht; und so richtig mitreißen kann irgendwie kein Handlungsansatz. Ich vermute (oder hoffe zumindest), die meisten wünschen sich schon noch irgendwie, dass jemand das Problem lösen werde. Aber es ist zäh. Bleiern. Ermattend.

Wie soll es nun also weitergehen? Das reflektiere ich beständig. Auch ich würde all dies am liebsten ignorieren. Auf Bluesky schrieb ich neulich:

»Ich will übrigens gar kein 'Klimaaktivist' sein. Ich will forschen, lehren, auf Metal-Festivals feiern und meine Zeit mit lieben Menschen teilen. Manchmal wünschte ich, einfach nichts von der Klimakrise zu wissen. Doch das Wissen verlangt, sich zu entscheiden. Zwischen Verdrängung und Verantwortung

Vielleicht ist es genau das: Verantwortung. Ja, auch ich würde mich dem am liebsten entziehen. Es verdrängen. Doch ein Problem hört nicht auf zu existieren, wenn wir einfach nicht mehr darüber reden. In einer komplexen Welt ist Passivität vor allem eines: nicht neutral.